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Romanisches Seminar AVL

Close Reading: Geschichte, Praktiken, Lektionen (Kompendium)

Publikationsprojekt von Prof. Dr. Stefanie HeineDr. Rahel Villinger und Prof. Dr. Sandro Zanetti 

In den Philologien, den Literaturwissenschaften, aber auch in anderen Bereichen der Kultur- und Geisteswissenschaften gehört das Close Reading nach wie vor zu den Kernelementen praktischer Fähigkeiten und disziplinärer Methoden. So unterschiedlich die entsprechenden Lektürepraktiken im Einzelnen auch ausfallen, sie bestehen stets aus Ermittlungs- und Vermittlungsakten zwischen dem, was wörtlich vorliegt, und dem, was sich daraus für die Bedeutungen, Implikationen und möglichen Effekte des jeweils Vorliegenden erschließen lässt, und zwar ohne dabei dem Vorhaben einer bestimmten Interpretation folgen zu müssen. Distant und Machine Reading zum Trotz bleibt die Fähigkeit der genauen Lektüre eine der wichtigsten fachlichen Grundlagen, die in der Lehre vermittelt, in der Forschung vorausgesetzt und immer wieder von Neuem betrieben wird. Umso überraschender erscheint, dass der im deutschsprachigen Raum unübersetzt gebrauchte Terminus, der ursprünglich dem New Criticism um I. A. Richards, William Empson, Cleanth Brooks und William K. Wimsatt entstammt, kaum je in seinen verschiedenen historischen Bedeutungen und Implikationen kontextualisiert, expliziert und methodologisch reflektiert worden ist. Häufig wurde ‚Close Reading‘ zum bloßen Label oder Streitbegriff im Spannungsfeld fachlicher Kontroversen, die wiederum zeigen, wie vage der Begriff meist verwendet wird.

Die vielfältigen, bis heute existenten Praktiken und Verständnisweisen eines Close Reading haben sich vor allem implizit entwickelt und gehen mit der transatlantischen Geschichte der Literaturwissenschaften und ihren verschiedenen Prägungen und Entwicklungen im 20. Jahrhundert Hand in Hand – von der Psychoanalyse über den Formalismus und die Dekonstruktion bis zum New Historicism, queerfeministischen Ansätzen sowie einem wieder verstärkten ästhetikgeschichtlichen Interesse an Form. Was in diesen verschiedenen Kontexten ein ‚Close Reading‘ auszeichnet, ist jedoch mindestens ebenso verschieden wie diese selbst.

Das geplante Kompendium setzt sich zum Ziel, die Geschichte(n) und (immer auch impliziten) Praktiken des Close Readings fundiert aufzuarbeiten und zugleich im Hinblick auf ihre mögliche Aktualität auf den Prüfstand zu stellen: Welche Lektionen lassen sich aus der jeweiligen Konstellation von Text, Lektüresubjekt, Situiertheit, theoretischem Einsatz sowie Ergebnis der entsprechenden Praxis ableiten? Und wie sind die Kontroversen einzuordnen, die sich in der Diskussion um den Begriff und die entsprechenden Praktiken ergeben haben?

Während im angloamerikanischen Kontext jüngst einige erste Einordnungs- und Unterscheidungsversuche historisch divergenter Praktiken des Close Reading sowie auch ihrer Kritik unternommen wurden, existiert bislang keine umfassende Untersuchung der transatlantischen Entwicklungen und ihrer Rückkopplungen. Auch die philologischen, teils erst retrospektiv zurechenbar gewordenen Vorgeschichten des Close Reading etwa bei Friedrich Nietzsche und Walter Benjamin oder die spezifische Stellung ‚textimmanenter‘ sowie formalistischer und postformalistischer Ansätze zum Close Reading sind bislang kaum aufgearbeitet. In diesem Sinne verbindet das vorliegende Projekt europäische und angloamerikanische Perspektiven und berücksichtigt dabei zugleich Stationen dieser Praxisgeschichte avant und après la lettre. Dazu gehören auch die Kontroversen, wie sie in den letzten Jahrzehnten im deutschsprachigen Raum etwa im Spannungsfeld zwischen Kulturwissenschaft und Philologie ausgetragen wurden oder im angloamerikanischen Raum entlang alternativer Begriffe wie Symptomatic, Paranoid, Un-/Critical, Surface oder Reparative Reading nachvollzogen werden können.

Die einzelnen Beiträge des Kompendiums behandeln einschlägige Momente oder Stationen der vielschichtigen Entwicklung des Close Reading anhand folgender Leitfragen: Was wird gelesen? Wie wird gelesen? Was heißt close im jeweiligen Fall? Was können wir über die jeweilige (oftmals stumme) Praxis überhaupt wissen? Welche Anhaltspunkte gibt es? Welche Anliegen, welche diskursspezifischen ‚Notwendigkeiten‘ motivieren das Close Reading? Und welche Anschlüsse zu und Absetzungen von anderen historischen Praktiken eröffnen sich dadurch? Jedes Kapitel berücksichtigt dabei die im Untertitel genannten drei Aspekte:

  • Geschichte: historische Situierung (Theoriediskurse, disziplinäre und literarische Traditionen und Abgrenzungen), auch Berücksichtigung etwaiger Kontroversen (methodologische Debatten, politische Implikationen)
  • Praktiken: Rekonstruktion der jeweiligen praxeologischen Implikationen anhand eines oder mehrere Beispiele (Lektüretechniken, pädagogische Praxis, Relation von konkreter Lesepraxis und schriftlichem Ergebnis bzw. Ergebnisform, Verhältnis von Text und Subjekt, implizite oder explizite Theorieorientierungen bzw. -entwürfe)
  • Lektionen: Frage nach der jeweiligen Relevanz bzw. Aktualität sowie nach Potentialen und Fallstricken.