Navigation auf uzh.ch

Suche

Romanisches Seminar

Emergentes Erinnern

Lead-Agency-Projekt, gefördert vom SNF und der DFG (1.9.2018 - 31.8.2021)
Projektleiter: Thomas Klinkert (UZH) und Stefan Pfänder (Freiburg i.Br.)

 

Das Projekt untersucht die sprachliche Herstellung von autobiographischer Erinnerung in der Gegenwartsliteratur und in Oral-History-Interviews auf der Grundlage französischsprachiger Erinnerungserzählungen mit inhaltlichem Schwerpunkt auf der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Basis des literaturwissenschaftlich-linguistischen SNF-DFG-Projekts (SNF Lead Agency) ist die in der Gedächtnisforschung gewonnene Erkenntnis, dass die Erinnerung nicht nach dem Modell von Speicherung und identischer Wiederbereitstellung des Gespeicherten funktioniert (v. Foerster 1993), sondern als ein komplexer Prozess der (Re-)Konstruktion begreifbar ist, der bestimmten kognitiven, sprachlich-interaktiven und kommunikativen Rahmenbedingungen unterliegt.

Ausgangspunkt der Untersuchung des Erinnerns aus kombinierter sprach- und literaturwissenschaftlicher Perspektive ist die Feststellung, dass in autobiographischen Erinnerungserzählungen häufig eine spezifische Entwicklung stattfindet, die als allmähliche, sich herantastende Verfertigung der Erinnerung beim Erzählen (Emergenz) bezeichnet werden kann. Eine Versprachlichung, die sich nach und nach ihrem Ziel annähert, in der man also die Spuren der Formulierungsarbeit noch deutlich erkennen kann, ist prinzipiell kennzeichnend für mündliches Erzählen. Hier sind häufig Emergenzphänomene wie syntaktische Fragmente, Wiederholungen, Reparaturen, Parenthesen und Digressionen zu finden.

Auch die literaturwissenschaftliche Betrachtung erkennt in solchen Emergenzstrukturen grundlegende Textkonstitutionsverfahren, die sich in modernen, experimentellen Formen schriftlichen Erzählens manifestieren. Der gemeinsamen Arbeit von Linguistik und Literaturwissenschaft liegt die Prämisse zugrunde, dass solche Techniken und Strategien des Sich-Herantastens keinesfalls als Performanzdefizit zu verstehen sind, sondern dass diese Art und Weise des Erzählens für die narrative Produktion und Rezeption von Erinnerung konstitutiv ist. Im Herantasten produzieren die Erzähler lokal funktionale Teilstücke auf dem Weg zu ihrer Erinnerung. Diese Offenheit und Nichtabgeschlossenheit der Teilstücke ermöglicht die schrittweise Weiterentwicklung, partielle Revision und Elaboration der Erzählung mit der Möglichkeit einer späteren Präzisierung und damit der Emergenz von Bedeutung im allmählichen Fortschreiten des Prozesses syntaktischer Konstruktion.

Das zentrale Ziel des interdisziplinären Projektes besteht in der Darstellung des Erinnerns als eines sozial-interaktiven, sprachlich hergestellten Prozesses und in der Analyse des Inventars hierfür eingesetzter Verfahren und Techniken. Ein besonderer Mehrwert liegt darin, bislang unentdeckte Gemeinsamkeiten zwischen literarischen und mündlichen autobiographischen Erinnerungstexten herauszuarbeiten und dadurch grundsätzliche Rückschlüsse auf die emergente Struktur des Erinnerungsprozesses zu erlauben, soweit dieser sich in narrativer Form niederschlägt.